Oettinger. Oder: Warum die wohlfeile Kritik in die Irre geht

Am kommenden Wochenende tritt die neue EU-Kommission ihr Amt an. Und damit Günther Oettinger die Nachfolge von Neelie Kroes als Kommissar für die Digitalwirtschaft. Diese Personalie hat insbesondere in der Szene viel Spott und heftige Kritik geerntet.
Meistens geht es dabei um die vorgeblich mangelnde oder angeblich notwendige Fachkompetenz des künftigen Digitalkommissars. Dass Günther Oettinger nach eigenem Bekunden „täglich online“ ist und sich via iPhone selbst Termine in den Kalender schreibt, solche Petitessen dienen dann als Nachweis fehlender Kompetenz.


Doch halt – welche Kompetenzen braucht ein Spitzenpolitiker tatsächlich? Muss ein Verteidigungsminister selbst in der Bundeswehr gedient haben? Muss ein Wirtschaftsminister selbst ein Unternehmen geführt haben? Offensichtlich nicht.
Für das Fachliche halten Ministerien und EU-Behörden ganze Stäbe von Mitarbeitern vor. Minister und Kommissare sind hingegen Experten der Macht. Ihre Aufgabe ist es, dort zu entscheiden, wo die Grenzen der Fachkenntnis erreicht sind, wo Fragen der politischen Macht und der gesellschaftlichen Werte beginnen.
Jeder Spitzenpolitiker wird schon aus Gründen der Machterhaltung auf die Fachkenntnis seines Stabes vertrauen. Sein Job ist nicht, es besser zu wissen als die Experten in seinem Hause. Er muss dort entscheiden, wo die Experten mit ihrem Latein am Ende sind, wo es mehrere fachlich gut begründete Meinungen gibt, wo es auch unter Fachleuten schließlich heißt: Das muss politisch entschieden werden.
Das ist das Geschäft der Politik, dafür brauchen wir Politiker. Ob sie nun einen guten Ruf haben oder nicht, einer muss den Job halt machen. Und manchmal ist es dafür sogar vorteilhaft, sich nicht allzu tief in den Niederungen des Fachlichen verstrickt zu haben.

Amazon: Services statt Hardware

People don’t want Gadgets anymore. They want services.
Jeff Bezos

Im Anfang war die Hardware, und die Hardware kam von Apple und IBM, und die Hardware war Apple und IBM. Dann kam die Software, und mit der Software kam Microsoft. IBM zog sich zurück und überließ die Hardware Dell und HP. Microsoft dominierte die Software, und Apple geriet an den Rand der Pleite.
Steve Jobs kehrte zurück und führte Apple in wenigen Jahren von dort an die Weltspitze. Er integrierte Hardware und Software zu attraktiven Produkten, indem er Services hinzufügte, um das Konsumentenerlebnis zu perfektionieren. Obwohl dieses Modell extrem erfolgreich ist, hat es bis heute kein Wettbewerber geschafft, etwas auch nur annähernd vergleichbares auf den Markt zu bringen.
Bis jetzt. Doch nun schickt sich Amazon an, dies zu versuchen. Statt auf Hardware wie Dell und HP, Software wie Microsoft oder Produkten aus Hardware und Software plus Services wie Apple liegt der Fokus von Amazon klar bei den Services. Und damit zeichnet sich eine Schlacht ab, die spannend zu beobachten sein wird.
Es ist die alte Dichotomie von Produkten und Dienstleistungen im neuen Gewand. Wir reden schon seit den 70er Jahren über die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft, über die Verwandlung von Produkten in Dienstleistungen. Die digitale Revolution hat dieser Entwicklung einen gewaltigen Schub verpasst.
Apples Exzellenz fußt ganz klar auf dem Design seiner Produkte. Im Vergleich dazu leistet sich Apple beim Design seiner Services schon einige Schwächen. MobileMe war ein Desaster, auch iCloud läuft noch nicht wirklich rund. Und das Universum aus iTunes und den App Stores hat ebenfalls reichlich Luft nach oben.
Für Amazon als Händler liegt das Thema Services näher als für Apple. Auch als Infrastrukturanbieter bleibt Amazon Web Services auf die Dienstleistungen konzentriert, das Geschäftsmodell heißt „Software as a Service“. Und die Hardware? Amazons Kindle-Geräte dienen dem einfachen Zugriff auf Medien, Inhalte und Produkte. Sie sind erkennbar Mittel zum Zweck, keine Gadgets.
Wenn Apple für seine Produkte steht, dann steht Amazon für seine Services. Ist Jeff Bezos der neue Steve Jobs? Ist er ein Meister des Service Designs, so wie Steve Jobs ein Meister des Produktdesigns war? Und ist Service Design das neue Produktdesign?
Mit dem Thema Service Design befassen wir uns auf der NEXT Service Design am 8. Oktober in Berlin. Tickets gibt es hier, Frühbucher sparen bis kommenden Donnerstag, den 13.09., noch 100 Euro.

Post-Digital ist auch ein Kundenmagazin

Auf meinem Schreibtisch ist heute die druckfrische Ausgabe von postdigital gelandet, dem Kundenmagazin der Berliner Agentur aperto plenum. Das Heft (Chefredaktion: Helge Birkelbach) ist schön gemacht, auch die Web-Ausgabe gefällt.
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Wie üblich für Druckerzeugnisse, die Agenturen in eigener Sache produzieren, stammt ein Großteil der Themen aus dem Kundenkreis des Auftraggebers: Berlin Tempelhof, Bundesfamilienministerium, Bertelsmann Stiftung. Nichts dagegen einzuwenden, so funktioniert Corporate Publishing. Agenturkunden, die es nicht in den redaktionellen Teil geschafft haben, sind in Form von Anzeigen präsent.
Ob das reicht für ein zweites Heft, scheint nicht so klar zu sein. Jedenfalls schreibt Agenturchef und Herausgeber Michael Sodar im Editorial vorsichtig von einer möglichen Fortsetzung dieser Ausgabe. Möglich heißt: keinesfalls sicher. Am Thema Post-Digital dürfte es jedoch nicht scheitern, das bietet Stoff genug.
Digital ist heute Alltag und braucht keine eigenständige Kennzeichnung mehr. Genauso wie selbstverständlich ist, dass unsere Geräte mit Strom betrieben werden – im Gegenteil: die mechanische Uhr, das handkurbelbetriebene Radio sind die Ausnahme. Erst wenn das Digitale allgegenwärtig ist, entstehen die echten Innovationen und verändert sich das Leben der Konsumenten.
Im Mai haben wir dazu eine ganze Konferenz veranstaltet. Vermutlich wäre den Machern von postdigital kein Zacken aus der Krone gebrochen, hätten sie diese Tatsache wenigstens einmal erwähnt.

Post-Digital: Das Ende der digitalen Revolution


Wenn es einen Sprecher auf der NEXT Berlin 2012 gab, der sich über das Motto Post-Digital so richtig gefreut hat, dann war es George Dyson. Er rede seit Jahren davon, was nach der digitalen Revolution komme, meinte er, nun gebe es endlich eine Konferenz dazu. Seine Keynote war eine fulminante Tour d’horizon durch die Geschichte der Digitalisierung und ein Plädoyer für einen Blick über deren Grenzen hinaus.
Während seines Aufenthalts in Berlin hat er auch der Welt am Sonntag ein Interview gegeben und seine Thesen erläutert. Der zentrale Punkt seiner Argumentation:

„Wir gehen zurück zum Analogen, aber keiner will es zugeben“, sagt Dyson. Google, Facebook und Amazon seien Beispiele des Trends zum Analogen. Diese Internetunternehmen würden zwar digitale Komponenten benutzen, aber das Geheimnis ihres Erfolgs liege eben daran, dass sie analoge Netzwerke seien.

„Die Komplexität bei Facebook liegt nicht im Code, sondern in den Verbindungen. Jeder Nutzer hat einen recht einfachen Code, und die Nutzer stellen die Verbindungen selbst her, sodass Facebook zu einem analogen Modell der wechselnden Beziehungen zwischen den Usern wird.“ Bei Google sei es ähnlich.

Die Herstellung einer digitalen und im Netz verfügbaren Fassung aller denkbaren Informationen, von einem alten Telefonbuch bis zu einer Karte der Galaxis, sei relativ einfach, „kompliziert ist hingegen die Bedeutung der Information“.

Die Bedeutung liege in der Verbindung zwischen den Informationen, und die stellen die Nutzer her: „Google verfolgt nur, wie wir Verbindungen herstellen. So entsteht ein analoges Modell, wie die neuronalen Netzwerke im Gehirn, wo es gar keine digitalen Informationen gibt, nur Verbindungen.“

Schön auch, wie Autor Alan Posener es schafft, die NEXT zu charakterisieren, ohne auch nur einmal den Namen zu erwähnen:

George Dyson ist in Berlin, um als Gastredner an einer jener Konferenzen teilzunehmen, die, wie er sagt, „bevölkert werden von Start-up-Unternehmen auf der Suche nach Geld und Leuten mit Geld auf der Suche nach einem Start-up-Unternehmen, das ihnen noch mehr Geld macht“. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker, der weder die Schule abgeschlossen noch eine Universität besucht hat, gilt in solchen Kreisen als Visionär.

Danke, Alan! Ohne uns hättest Du George Dyson niemals zum Interview bekommen. Haben wir doch gerne für Dich getan.

car2go startet in Berlin – rechtzeitig zur Berlin Web Week

Hamburg hat sie schon etwas länger, jetzt kommen die weiß-blauen Smarts auch nach Berlin. Ende April bringt car2go die mit 1.000 Autos größte Fahrzeugflotte der Welt in der Hauptstadt an den Start. Wenige Tage vor dem Start der Berlin Web Week am 2. Mai rollt die Daimler-Tochter ihr Spontanmietkonzept am Ort des Geschehens aus.
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Parallel startet car2go einen Pilotversuch, in dem die öffentlichen Verkehrsmittel des VBB mit car2go und weiteren Partnern in einem gemeinsamen Auskunfts- und Bezahlsystem kombiniert werden sollen. Neben Bus, Bahn und Carsharing sollen auch Fahrradverleih, Taxi und Parkautomaten integriert werden. Dabei sein soll auch myTaxi, an dem sich Daimler und die Deutsche Telekom erst vor kurzem beteiligt haben.
Ab 2013 sollen die konventionellen Autos schrittweise durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden. Im nächsten Jahr sollen 300 der 1.000 Fahrzeuge elektrisch fahren, die ersten Elektroautos sind testweise bereits für 2012 angekündigt. Beim Flottenbetrieb arbeitet car2go mit Europcar zusammen.
Daimler und die Deutsche Telekom sind Sponsoren der NEXT Berlin 2012.

Willkommen in der post-digitalen Welt!

Hier auf dem Fischmarkt haben wir uns von jeher der digitalen Revolution und ihrem Protagonisten verschrieben, dem interaktiven Konsumenten. Wenn wir nun „Post-Digital“ zum Motto der NEXT Berlin 2012 ausrufen, heißt das dann, dass die digitale Revolution vorbei ist? In gewisser Weise ja. Nicholas Negroponte konstatierte das Ende der digitalen Revolution schließlich bereits im Jahre 1998.

Wenn erst einmal alles digital ist, dann ist „digital“ kein sinnvolles Kriterium mehr. Wie Luft und Trinkwasser wird das Digitale nur durch seine Abwesenheit wahrgenommen, nicht durch seine Gegenwart. So fällt nur auf, wenn der Zugang zum Internet versperrt oder nicht vorhanden ist. Das Vorhandensein ist der nicht registrierte Normalfall.

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Wenn alles digital ist, was kommt danach? Was ist dieses „Post-Digital“? Simon Jenkins hat darauf nun im Guardian eine ausführliche Antwort gegeben:

Post-digital is not anti-digital. It extends digital into the beyond. The web becomes not a destination in itself but a route map to somewhere real. In Marshall McLuhan’s terminology, it is cold where live is hot. This is why concerts did not die with the invention of records, but thrived on the difference. The screen relieves loneliness, as once did letters and phones, but it remains a window on the world, not a door. You cannot download the thunderous beat and sweaty presence of thousands at a Lady Gaga concert, any more than you can make love on Facebook, much as some try. You have to go somewhere for it to happen.

Online services have found it hard to „monetise“ their visits. Most offer nothing but free information and waste millions of man hours garnering unremunerative hits, whereas live uses the web to market and charge for a destination. As consumer spending evolves from „needs to wants“, from goods to experiences, the post-digital age focuses on personal contact. Post-digital is not pre-techno but exploits technology for a civilising purpose, human congregation and intercourse. The money is at the gate. This must be good news.

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Illustration: Otto, The Guardian

Post-Digital: Ist die digitale Revolution vorbei oder hat sie gerade erst begonnen?

1998 überschrieb Nicholas Negroponte seine letzte Kolumne für Wired mit der programmatischen Zeile: Beyond Digital. Seine Zeitdiagnose damals lautete knapp: „Face it – the Digital Revolution is over.“
Wenn erst einmal alles digital ist, dann ist „digital“ kein sinnvolles Kriterium mehr. Wie Luft und Trinkwasser wird das Digitale nur durch seine Abwesenheit wahrgenommen, nicht durch seine Gegenwart. So fällt nur auf, wenn der Zugang zum Internet versperrt oder nicht vorhanden ist. Das Vorhandensein ist der nicht registrierte Normalfall.
Wie so oft waren es zunächst Künstler, die das Konzept aufgriffen. Den Begriff Post-Digital prägte Kim Cascone in seinem bereits 2000 im Computer Music Journal erschienenen Aufsatz „The Aesthetics of Failure: ‚Post-Digital‘ Tendencies in Contemporary Computer Music“.
Schnell mal neun Jahre vorgespult, und schon ist das Thema in der Agenturwelt angekommen. Russell Davies, heute Head of Planning bei R/GA London, stellte Anfang 2009 in seinem Blog die folgende Diagnose:

1. Screens are getting boring. It’s really hard to impress anyone with stuff on a screen any more. However clever you’ve been. However much thought you’ve put in. However good the tech is. No-one’s impressed. They’ve all seen better stuff in ads and movies anyway – when will onscreen stuff be as good as that? Whereas doing stuff in the real world still seems to delight and impress people. Really simple stuff with objects looks like magic. Really hard stuff with screens still just looks like media.

2. There are a lot of people around now who have thoroughly integrated ‚digitalness‘ into their lives. To the extent that it makes as much sense to define them as digital as it does to define them as air-breathing. ie it’s true but not useful or interesting.

3. The stuff that digital technologies have catalysed online and on screens is starting to migrate into the real world of objects. Ideas and possibilities to do with community, conversation, collaboration and creativity are turning out real things, real events, real places, real objects. I’m not saying that this means that these things are therefore inately better, or that the internet has ‚come of age‘ or any of that nonsense. I just mean that there are new, interesting things going on IRL and that they have some advantages (and penalties) that don’t apply online.

Ein gutes Jahr später, inzwischen ist es Mai 2010, stellen Teresa Iezzi und Ann-Christine Diaz die Frage: Are We Post-Digital Yet?

The most compelling brand ideas of the last decade have had a digital heart but have manifested themselves in meaningful ways in people’s fleshly lives–see Nike+ and Fiat Eco Drive. And, an increasingly digitized world means the internet is already all around you. The internet of things–the growing number of networked, everyday objects from fridges to pill bottles to cars–is a reality. But it seems that the idea that digital has transcended something experienced from beginning to end via a keyboard and on a screen has finally gripped the mainstream brand world.

Die beiden Autorinnen belassen es nicht beim allfälligen Hinweis auf die seit Jahren omnipräsenten Beispiele Nike+ und Fiat Eco Drive – sie bieten eine lange Liste relevanter Beispiele.
Im gleichen Jahr, Ende September 2010, droht Wieden + Kennedy via Blog: post-digital or die! Die post-digitale Welt verlange nach einem neuen Marketingmodell.

What has changed is the nature of ‚digital‘ marketing. We’ve reached a tipping point where the tech and the audience have reached a level of maturity where digital is everyday and normal. Now, what agencies and marketers need to understand is how people behave in relation to content, community, technology and media. This isn’t easy because it’s evolving rapidly and constantly. It used to be that digital shops were far better informed and connected to digital culture. But now that culture is mainstream.

Kurze Zeit später war Russell Davies vom bisherigen Verlauf der Debatte so wenig erfreut, dass er eine Entschuldigung nachschob:

Post-Digital was not intended as a sop for the complacent. It’s not supposed to suggest that ‚digital‘ is a solved problem or yesterday’s fad. It’s not a suggestion that digital* is just another channel. It’s not supposed to be a synonym for integrated, 360, channel-neutral or any of that stuff. Doing some telly AND a website does not make you Post Digital.

The only way to be a Post Digital business is to be a thoroughly, deeply, massively digital one. To be digital in culture not just in capabilities. To know how to iterate in public, to do experiments not research, to recognise that it’s quicker and better to code something than it is to describe it in meetings. You need to be part of the wider digital culture, to have good sharing habits, to give credit where it’s due, and at the very least to know how to do ellipses in Processing.

Post DIgital was supposed, if anything, to be a shout against complacency, to make people realise that we’re not at the end of a digital revolution, we’re at the start of one. The end game was not making a website to go with your TV commercial and it’s not now about making a newspaper out of your website. Post Digital was supposed to be the next exciting phase, not a return to the old order. It’s the bit where the Digital people start to engage in the world beyond the screen, not where the old guard reasserts itself.

If I’d paid more attention in history I’d probably be able to throw in a Russian Revolution analogy at this point – possibly something about the Mensheviks.

Werbe-Tausendsassa Amir Kassaei, inzwischen globaler Kreativchef von DDB, tutet in der aktuellen W&V ins gleiche Horn:

Einer der Gründe, weshalb digitale Kommunikation qualitativ weltweit nicht funktioniert: Digital wird immer noch als Medium und nicht als Infrastruktur angesehen. Auch Facebook und Co. sind keine weiteren Medienkanäle, sondern Netzwerke und Plattformen. Solange dieser Perspektivenwechsel nicht erfolgt ist, werden wir auch keinen Schritt weiterkommen.

In einigen Jahren leben wir in einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Es gibt dann keine Differenzierung mehr zwischen online und analog. Dadurch sind die Menschen quasi allwissend, und zwar in Echtzeit. Marketing wird eine ganz andere Rolle spielen. Die Digitalisierung gibt den Menschen die Möglichkeit zu teilen, was sie für relevant halten. Aber sie wird keinen traditionellen Kanal ersetzen.

Wenn die Unterscheidung zwischen digital und analog wegfällt – ist dann die digitale Revolution vorüber? Oder fängt sie damit erst an?

Gegengift und Gegenthesen zum Appell des DDB-Chefs

laurent burdin.pngEine Antwort auf einen Appell des DDB-Chefs Tonio Kröger zur effektiven Marketingkommunikation in 4 Thesen (Horizont-Artikel).
„Wir werden sehen, wie uns das alles überholt und einholt“ – mit diesen Worten möchte Tonio Kröger seine Branche wachrütteln. Er appelliert an die Kollegen, sich schnellstmöglich an die neuen Bedingungen erfolgreicher Marketingkommunikation anzupassen.
Doch sind seine Thesen wirklich neu?


These 1: Die Grenzen in der Kommunikation lösen sich grundlegend auf
Gegenthese 1: Neue Technologien lösen die traditionellen Kommunikationsdisziplinen auf
Es sind die neuen Technologien, die alles ändern. Der Konsument nimmt sie an und hat längst dafür gesorgt, dass die Kommunikationsgrenzen aufgelöst wurden. Er hat eine Fernbedienung oder ein mobiles Gerät dabei und ist online bei jedem Schritt und zu jeder Zeit. Das bringt ganz neue Regeln für effektive Kommunikation. Die erste von ihnen lautet: Entwickele ein spitzes Verständnis für die neuen Technologien und setze sie für Kommunikation ein. Das bedeutet: schnell raus aus der Komfortzone des traditionellen Marketings. Dafür muss man viel Spezialwissen aufbauen und bloß nicht „Werbeagenturen“ und „Digitalagenturen“ und „Mobile Agenturen“ fusionieren, sondern die Spezialisten verstärken.
These 2 : Relevanz wird zum entscheidenden Faktor
Gegenthese 2: Moment und Momentum sind entscheidend
Relevanz ist viel zu vage. Menschen reagieren sehr stark auf zwei Faktoren: der Moment und das Momentum. In welchem Moment soll eine Marke mit ihren Kunden kommunizieren? Die Frage muss beantwortet werden, um Botschaften, Medien und Technologien festzulegen und dann Erfolg zu haben. Das Momentum ist die Verstärkung und die Verbreitung dieser Kommunikation. Eine Kommunikation – sei es eine Werbung, eine Website, eine App – funktioniert nie von allein. Es ist die neue Aufgabe des Marketings, den richtigen Mix zu suchen: gutes Angebot am richtigen Moment, Verbreitungselement eingefügt, Mechanismen der sozialen Netzwerke aktiviert und dosiert Massenmedien eingesetzt.
These 3: Unternehmen müssen sich auf die gestiegene Macht der Konsumenten einlassen.
Gegenthese 3: Wach bleiben! Konsumenten bejubeln und bestrafen Marken.
Das ist die richtige Einstellung – allerdings nicht neu: Die Konsumenten haben doch längst die Macht übernommen. Okay, sie sind manchmal faul und wechseln doch nicht den Handytarif oder das Girokonto. Sie sind aber auch aktiv und sehr offen für gute, klare und schnelle Kommunikation. Solche Inhalte verbreiten sie gern. Die gelungenen Apps von Marken verwenden sie täglich. Schlechte Ideen bestrafen sie, z.B. bei konstruierten Ideen, langsamen Reaktionen auf Feedback und inaktiven Marken. Also bleiben sie immer wach!
These 4: Die Grenzen zwischen Kommunikation und Vertrieb verschwinden
Gegenthese 4: Interaktion ist eine gemeinsame Mission für Kommunikation und Vertrieb
Digitales Marketing und E-Commerce haben längst die Grenze zwischen Vertrieb und Kommunikation verwischt. E-Commerce ist beides: Vertrieb und Kommunikation. Erfolgreiche Retailer im Netz oder im stationären Handel haben es verstanden: In einem Ikea-Store ist alles Kommunikation, bei Tesco ist offline, online und mobile integriert, bei amazon ist der konstante Dialog der rote Faden der Kommunikation. Heute haben Kommunikation und Vertrieb eine gemeinsame Mission, eine einzige Aufgabe: Interaktion mit Kunden.
Mein Gegengift zum traditionellen Marketing: Menschen in der U-Bahn beobachten, neue Technologien tatsächlich verstehen, ständige Interaktion mit Kunden pflegen, Disziplinen nicht fusionieren sondern spezialisieren und positiv an Morgen denken.
Laurent Burdin ist seit 2007 bei SinnerSchrader und heute Geschäftsführer von SinnerSchrader Mobile. Er setzt sich mit Begeisterung für die Änderung des Marketings durch neue Technologien ein. Er kommt ursprünglich aus der Werbebranche, wo seine letzte Station Springer & Jacoby war.

Sind Amazon, Apple, Facebook und Google die neuen Banken?

Social war gestern. Jetzt geht es um die Identität der Konsumenten, und morgen um ihre Bankkonten. Die vier apokalyptischen Reiter des Internets – Amazon, Apple, Facebook und Google – liefern sich derzeit eine Schlacht um die Nutzerkonten, die bald schon in einen Kampf um die Girokonten münden könnte.
Deshalb sind bei Google+ keine anonymen Nutzerkonten möglich – wie bei Amazon und Apple übrigens, und auch Facebook erlaubt keine Pseudonyme oder anonyme Accounts (obwohl das in der Praxis bis jetzt nicht strikt durchgesetzt wird). Google+ ist mehr als nur ein Social Network oder die Antwort auf Facebook – es ist Googles Identitätsdienst, künftig Personalausweis und Kreditkarte zugleich.
Wie wir künftig im Netz – und nicht nur dort, sondern auch in der physischen Welt – bezahlen, hinter dieser Frage steckt buchstäblich jede Menge Geld. Wenn ich mein Girokonto erst einmal bei Amazon, Apple, Facebook oder Google habe, dann können Bezahlvorgänge im Netz ohne Beteiligung des herkömmlichen Bankensystems stattfinden.
Recht weit vorne in diesem Rennen liegt übrigens Paypal, das in Europa bereits eine Bank ist und über ein Jahrzehnt Erfahrung mit Zahlungsprozessen hat. Interessanterweise gehört Paypal nicht zu einem der Großen Vier, sondern zu Ebay, und ist deshalb etwas aus dem Fokus geraten. Holger Spielberg von Paypal hat auf der NEXT11 einen guten Überblick über diesen spannenden Markt gegeben.
Amazon hat von je her Zahlungsdaten seiner Kunden, bietet schon länger eine eigene Kreditkarte an und führt bereits Guthaben, bis jetzt in Form von Gutscheinen. Jüngstes Beispiel ist das Trade-In-Programm für den Ankauf gebrauchter Ware gegen Amazon-Guthaben.
Apple nimmt sich im Vergleich dazu recht spartanisch aus: Ohne Kredit- oder Guthabenkarte geht nichts. Was umgekehrt aber bedeutet, dass mit jedem Apple-Konto ein Zahlungsweg verbunden ist. Und Facebook hat längst eine eigene Währung, mit der ich früher oder später auch anderswo im Netz (oder gar in der physischen Welt, mit meinem Facebook Phone) werde bezahlen können.
Eins ist klar: Google Wallet ist nur der Anfang. Die vier Musketiere werden sich früher oder später im Wettbewerb mit den etablierten, krisengeschüttelten Banken wiederfinden. Die Finanzbranche ist längst reif für die digitale Revolution. Chris Skinner sieht die Reformation im Bankensektor bereits am Horizont.
Chris Skinner hält nächste Woche die Keynote auf der ersten NEXT Finance in Frankfurt/Main. Sein Thema: Why Banking Will Disappear But Banks Will Not … Well, Not All of Them. Übrigens die Antithese zu einer berühmten Sentenz von Bill Gates: Banking is necessary, banks are not.
[via]
Nachtrag: Thilo Specht schreibt heute praktisch gleichzeitig (und als Antwort auf Wolfgang Lünenbürger-Reidenbachs Todesprognose für Facebook):

Facebook hat nicht nur über 700 Millionen Datensätze, sondern über 700 Millionen Kunden. Man stelle sich vor, das Unternehmen erwirbt eine Banklizenz und bietet seinen Bestandskunden (Online-)Banking- und Investment-Produkte an. Auf der Grundlage von Markt- UND Netzwerkeigenen Daten. Inklusive sicherer Bezahlmöglichkeiten in den großen Shops wie Amazon, eBay und Co. (Tschüss Paypal, ich kann mir Deine Passwörter sowieso nie merken). Direktüberweisungen direkt aus dem Profil heraus, an das Profil eines anderen Mitglieds. Mobile Payment. Hört ihr sie rascheln, die Scheinchen? Die Facebook International Bank kann global agieren, weil sie schon überall vor Ort ist. Weil die Kunden schon alle an Bord sind. Weil die Investmentprojekte schon alle Facebook-Seiten haben. Weil die Infrastruktur schon steht.

Sascha Lobo und die weltverbessernde Wirkung der digitalen Sache

Sascha Lobo hat noch lange nicht fertig. Schon auf der diesjährigen re:publica hielt er dem verdutzten Publikum eine zwölfminütige Strafpredigt. Heute nun legt er in seiner wöchentlichen Kolumne bei Spiegel Online noch einmal nach.

Viel zu oft transportieren wir in Diskussionen: „Wer nicht meiner Meinung ist, hat nicht nur unrecht, sondern muss dumm sein.“ Wir sind so sehr von der weltverbessernden Wirkung der digitalen Sache überzeugt, für die wir kämpfen, dass uns der Sinn für Diplomatie und Überzeugungskunst nicht nur abgeht, sondern von vielen für überflüssig gehalten wird. Selten würden wir uns mit weniger als der Maximallösung einverstanden erklären. Und das Schlimmste: Es kommt uns eigentlich viel eher darauf an, unsere Überlegenheit zu beweisen als eine Wirkung zu erzielen.

Ich für meinen Teil heiße diese Szene, der Sascha hier so fulminant den Spiegel vorhält, schon seit geraumer Zeit „digitale Besserwisser“. In die gleiche Kerbe haut die Beraterin Martina Pickhardt, wenn sie konstatiert:

Wir sind ein Volk der Berater geworden, die zwar super Vorschläge machen, wie es denn alles viel besser aussehen könnte im digitalen Deutschland, aber nicht die Verantwortung übernehmen wollen, es selbst umzusetzen.

Professionalitätsverweigerung. Ein anderes Wort fällt mir dafür nicht ein. Es wimmelt nur so von digitalen Statlers und Waldorfs. Leider aber nicht besonders witzig.