in Revolution, Technologie

Künstliche Intelligenz, Multitasking und andere Illusionen


Künstliche Intelligenz heißt das alte, bis heute uneingelöste Versprechen der Informatik, eigenständig denkende Computer zu schaffen. Oder wenigstens Intelligenz zu automatisieren. Was aber, wenn es umgekehrt käme? Wenn nicht Computer lernten, wie Menschen zu denken, sondern Menschen ihr Denken den Computern anpassten? Dass es bereits soweit ist, diese These vertritt Frank Schirrmacher in Payback, seinem jüngsten Buch.
Der Gedanke hat etwas Bestechendes, doch zugleich Triviales. Schon der Faustkeil, ein früh vom Menschen erfundenes Werkzeug, hat wiederum den faustkeilschwingenden Menschen verändert. Der Mensch hat sich immer den von ihm selbst erfundenen Werkzeugen angepasst. Brillen haben die Überlebenschancen von Fehlsichtigen erhöht. Der Mensch ist fehlsichtig geworden, denn er hat ja nun die Brille zum Sehen.
Die Erfindung der Schrift, des Buches und des Buchdrucks hat den Menschen von der enormen Gedächtnisleistung der mündlichen Überlieferung entlastet. Der Mensch hat Lesen gelernt, aber dafür das Merken und Auswendiglernen immer mehr verlernt. Und nun also der weltweit vernetzte Computer, der uns das Denken abnimmt, indem er es automatisiert?
Eines der zentralen Motive Schirrmachers ist die Angst vor Kontrollverlust. Diese Angst befällt angesichts neuer Technologien stets jene, die zuvor die alten kontrollierten und nun danach trachten, ihre Kontrolle auch auf neue Technologien zu erstrecken. Was im Falle des Internets bis jetzt nicht gelang, da dessen Bauprinzipien sich radikal von denen der alten Medien unterscheiden.
Die dezentrale Kommunikation der vielen mit den vielen führt, das lässt sich Schirrmacher nicht absprechen, zu einem neuen Kampf um Aufmerksamkeit und zu permanenter Aufmerksamkeitsüberlastung. Diese Überlastung zeigt sich für mich am deutlichsten in der E-Mail. Ich bekomme mehr Mail, als ich bearbeiten kann. Selbst wenn alle überflüssigen Mails gelöscht und alle erledigten abgelegt sind, bleiben mehr zu beantwortende Mails übrig als Zeit dafür vorhanden wäre.
Die einzig mögliche Reaktion darauf ist schärfere Selektion. Als infolge des Buchdrucks die Bibliotheken wuchsen, zwangen sie die Leser dazu, ihre Lektüre stärker als zuvor auszuwählen. Die Abhängigkeit des Lesers von Bibliothekar, Rezensent und Katalog nahm zu. Niemand konnte mehr alle Bücher lesen. Heute können wir nicht mehr alle Mails lesen, geschweige denn beantworten. Wir müssen selektieren und ignorieren.
Das Internet schafft in nie gekanntem Tempo neue Kommunikationskanäle, die neben die alten treten. Weil Mail unter Verstopfung leidet, entsteht Platz im digitalen Biotop für private Kurznachrichten in Twitter, für die Mailsurrogate von Xing oder Facebook und für Google Wave. Das Problem der Aufmerksamkeitsüberlastung wird dadurch nicht gelöst, aber wie auf einem Güterbahnhof verschoben. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Kanäle, die uns den meisten Nutzen stiften oder Spaß machen. Am besten beides.
Tun wir das alles gleichzeitig, so nennt sich das Multitasking. Multitasking ist Körperverletzung, schreibt Schirrmacher lakonisch. Ein weiterer Satz, dem ich uneingeschränkt zustimmen kann. Menschen können nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun, selbst wenn sie weiblichen Geschlechts sind. Genaugenommen können das auch Computerprozessoren nicht, sie schalten nur sehr schnell zwischen verschiedenen Aufgaben um. Multitasking ist also nicht mehr als eine Illusion, beim Menschen noch mehr als beim Computer, denn Menschen brauchen länger für den Kontextwechsel und machen dabei mehr Fehler. Zum Beispiel vergessen sie gern, was sie tun wollten, und wenden sich neuen Aufgaben zu, ohne die alten jemals abzuschließen.
Schirrmacher erdreistet sich in seinem Buch, Computer und Internet von ihren Thronen als Heilsbringer des 21. Jahrhunderts zu stoßen. Seine Fragen sind legitim, sein Anliegen ein klassisch humanistisches. Und doch lässt Payback mich ratlos zurück. Denn am Ende bleibt unklar, wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen können – obwohl Schirrmacher dem nicht weniger als ein Drittel seines Buches widmet. Das könnte an einem Webfehler liegen.
Denn ärgerlich an diesem Buch sind die vielen kleinen Ungenauigkeiten. So werden aus Trackbacks einmal „Trackballs“. E-Mails und SMS werden zu Befehlen, die ein Computer gibt, unabhängig davon, ob Menschen oder Maschinen sie absenden. Bruce Sterling wird zu Bruce Sterlin, und die zu „Tweeds“ verballhornten Tweets sind bereits legendär. So bleibt das Buch letztlich Feuilleton. Schirrmacher hat eine starke These, aber seine Argumentation lässt es an Stringenz, Klarheit und Logik fehlen.
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