in Revolution, Social Media

Die neue Mitte wählt FDP. Und nicht die Piraten

Auch wenn sie sich auf Twitter noch nicht zu äußern wagt. Elisabeth Noelle-Neumann formulierte in den 70er Jahren die Theorie der Schweigespirale. Danach hängt es in vielen Fällen von der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung ab, ob sich Menschen öffentlich zu ihrer Meinung bekennen.
Auf Twitter war das Bild am Wahlabend klar: großes Entsetzen über die schwarz-gelbe Mehrheit, allgemeine Abscheu gegenüber der FDP. Dabei bin ich fast sicher, dass sich gerade auf Twitter überdurchschnittlich viele FDP-Wähler tummeln. Aber nur wenige von ihnen haben sich öffentlich geäußert, weil sie die Konfrontation mit der wahrgenommenen Mehrheit scheuten.
Es gibt ein neues liberales Milieu, das die Basis für den Wahlerfolg der FDP bildet. Und es ist gar nicht so weit entfernt von denen, die es Arbeit nennen. Gustav Seibt macht in der Süddeutschen Zeitung eine nicht unerhebliche neue Mitte aus.

Diese hätte früher selbstverständlich SPD oder Grüne gewählt. Heute aber ist sie vierteljährlich mit der Abrechnung der Umsatzsteuervoranmeldung beim Finanzamt beschäftigt. Viele kreative Berufe – Filmproduzenten, Webdesigner, Galeristen, etablierte Schauspieler – sind heute nicht mehr in Groß- und Staatsbetrieben wie Museen und Theatern beschäftigt. Stattdessen betreiben sie schnell entstehende wie vergehende kleine und mittlere Subunternehmen. Zwischen ihnen und dem Staat liegt keine Personalstelle mehr. Und so hat für sie das Wort „Transferleistung“ eine Anschaulichkeit, die da fehlt, wo man nur einmal im Monat achtlos einen Gehaltszettel abheftet.

Dass am unteren Rand dieses Kreativbürgertums die Zwangsverwaltung des Alltags durch die Arbeitsagenturen droht, macht die Einstellungen dieser Leute nicht sozialdemokratischer. Wer fast 20 Prozent Umsatzsteuer für jene öffentlich-rechtlichen Radiohonorare entrichtet, die von den öffentlich-rechtlichen Gebührenempfängern nicht vergütet werden, und wer einmal im Jahr die Bescheide der Künstlersozialkasse über die wahrscheinliche Rente ab 67 erhält, der schaut mit kühlem Blick auf die Rentnerheere bei den anderen Parteien.

Und so fort. Auch für die Piratenpartei, eigentlich eine Art FDP 2.0, hat Seibt eine passende Erklärung parat:

Übrigens mag es sein, dass die Piratenpartei bald den Prekariatsflügel dieses volatilen intellektuellen Unternehmertums darstellt. Und auch das hat nicht nur einen kulturellen Hintergrund, geht es doch um Zugangs- und Verwertungsrechte im Hauptarbeitsfeld dieser Schicht: dem Internet. Und um jene bürgerliche Freiheit sowieso, die den alten Staatsvolksparteien immer öfter weniger bedeutet als die Sicherheit. In diesem Milieu, das wachsen wird, will man sich weder von der Arbeitsagentur das Leben vorschreiben noch vom Staatsschutz durchleuchten lassen.

Dieser Freiheitswille, er hieß einmal Liberalismus.

Die Piratenpartei und mit ihr die lautstarke Mehrheit auf Twitter sitzen vorerst in ihrer Nische fest, als Minderheiten, die sie tatsächlich sind. Denn wie Christoph Salzig treffend bemerkt:

Die Selbst­wahr­neh­mung der Anhän­ger und eini­ger Pira­ten selbst und die erzielte Wir­kung ste­hen in einem dis­so­nan­ten Ver­hält­nis. Hierzu gibt es in der Marketing-, Werbe- und PR-Welt lei­der einige unüber­seh­bare Par­al­le­len. Nicht umsonst wer­den die zum Teile ebenso zag­haf­ten wie untaug­li­chen ers­ten Schritte ein­zel­ner Unter­neh­men, sich in Web 2.0 (allein, dass die­ses Wort aus dem Sprach­ge­brauch der so genann­ten Social Media Evan­ge­lis­ten bereits getilgt wurde, spricht Bände) zu ver­su­chen, mit einer Urge­walt gebrand­markt, dass man den Ein­druck gewin­nen kann, das Ende des Word Wide Web steht bevor.

Doch die Wahr­heit sieht anders aus. Wäh­rend bis­wei­len für meh­rere Tage (dar­auf beschrän­ken sich der­ar­tige Dis­kus­sio­nen zum Glück) in der Social Media Nische kaum noch andere The­men gehan­delt wer­den, nimmt die „große, weite Welt“ da drau­ßen, kaum Notiz. Nicht allein Vodafone-Sprecher Kuzey Alex­an­der Ese­ner kon­sta­tierte, dass der vom „Mikro­kos­mos“ aus­ge­löste Social Media „Tsu­nami“ sich in den Filia­len über­haupt nicht aus­ge­wirkt hat. Ein wenig mehr Boden­stän­dig­keit stünde vie­len Prot­ago­nis­ten gut zu Gesicht. Das würde das Ver­ständ­nis für die eige­nen Ansich­ten und drin­gend not­wen­dige Rich­tungs­wech­sel in Gesell­schaft, Wirt­schaft und Poli­tik sub­stan­zi­ell fördern.