Jetzt ist es also da. Die ersten gemeinsamen Fotos mit dem iPad sind vertwittert. Endlich kann man es in Ruhe in Händen halten: Das Gerät, das den vermeintlich größten Fortschritt im Bereich der intuitiven Computernutzung seit dem Apple II vor ca. 40 Jahren darstellt. Das iPad nutzt dabei ein Urmuster unseres Alltags: Dinge in die Hand nehmen zu wollen, um sie zu untersuchen und zu begreifen.
Metaphern ziehen die Finger magisch an
Aus unseren ersten Designstudien haben wir gelernt: Ein gelungenes iPad-Interface muss mit diesem Urinstinkt spielen. Es war interessant zu sehen, wie die Finger der Arbeitskollegen von manchen ausgedruckten Entwürfen geradezu magisch angezogen wurden. Unserer Erfahrung nach kann der Einsatz von Metaphern dabei sehr nützlich sein. Denn mit ihnen lassen sich fast physikalisch spürbare Interfaces entwickeln. Man vergisst sehr schnell, dass man ja eigentlich nur über Glas streicht…
Wann wird aus Realismus Kitsch?
Die Gratwanderung zwischen hochwertigem Design und Imitations-Kitsch ist dabei schwierig. Angefeuert durch die App-Revolution werden gerne allerhand Materialien digital imitiert: Leder, Papier, Kork etc. Im iBookstore werden Bücher virtuell in optisch recht „rustikalen“ Holzregalen gelagert. Man kann so etwas auch Kitsch nennen – aber es ist sicher auch ein Befreiungsschlag gegen die humorlosen Benutzeroberflächen der grauen PC-Ära. Und sie machen Spaß!
Optische Widersprüche vermeiden
Für unser Projekt haben wir die Metapher eines digitalen Buches aufgegriffen. Es wurde schwierig, als wir Funktionen gestalten mussten, die ein reales Buch nun mal nicht hat. Zum Beispiel sollte unser Buchcover wechselnde dynamische Informationen wie Nachrichten und Schaubilder darstellen können. Jetzt zeigte sich: Je naturgetreuer die Abbildung des Buches gestaltet war, desto irritierender für den Betrachter. Es schafft ästhetisches Unbehagen, wenn ein bekanntes Objekt, das man aus dem realen Leben kennt, anders funktioniert als man es gewohnt ist.
Metaphern als „digitale Erinnerungen“ gestalten
Die Lösung ist einfach und auch die Interfaces von Apple wie Calendar und Contacts arbeiten so – jedenfalls, wenn man genau hinschaut: Man nutze eine reale, haptische Metapher, aber mache es nicht ZU realistisch! Also gestalte man die Metapher „Buch“ eher wie eine digitale Erinnerung, ein Nachhall an das reale Objekt. Dann verzeiht man es als Nutzer auch, dass ein virtuelles Buchcover dynamische Inhalte anzeigen kann oder man Buchseiten plötzlich nicht nur umblättern, sondern auch scrollen kann.
In den hervorragenden Human Interface Guidelines von Apple wird das so beschrieben:
As you work on adding realistic touches to your application, don’t feel you must strive for scrupulous accuracy. Often, an amplified or enhanced portrayal of something can seem more real, and convey more meaning, than a faithful likeness.
Qualität der Animation wichtiger als grafische Genauigkeit
Zusätzlich wird die Glaubwürdigkeit einer grafischen Metapher in hohem Maße von der Qualität der überleitenden Animationen bestimmt:
In general, it’s more important to strive for accuracy in movement than in appearance.
Schon beim iPhone machen die herrlich fein abgestimmten Animationen zwischen den einzelnen Screens einen wichtigen Teil des Nutzungserlebnisses aus. Man fliegt quasi von einem Screen zum nächsten. Beim größeren Bildschirm des iPad wird dieser Punkt noch wichtiger.
Wir sind erst am Anfang
Natürlich muss nicht jede iPad-Anwendung mit einer Metapher arbeiten um zu funktionieren. Die guten Leseeigenschaften des Gerätes werden sicher ein breites Angebot an typografisch gestaltetem Content anziehen. In fünf Jahren werden sich die Oberflächen der iPad-Anwendungen ausdifferenziert haben: News Apps, Games, Social Apps etc. werden dann ihre am Verwendungszweck orientierten Interfaces haben. Sie werden sozusagen ihre grafische Evolution durchmachen. Was gut funktioniert und die Besonderheiten des Gerätes voll ausnutzt, wird sich durchsetzen. Seien es jetzt hochwertig gestaltete typografische Informationsangebote oder eben metaphorische Bedienwelten.
Spannend. Wir werden das miterleben können.
Marcel Hastenteufel ist Senior Art Director bei SinnerSchrader.